Ob eine Krise eine Krise ist und wie schlimm diese wahrgenommen wird, darüber entscheiden wenige Kommunikatorinnen und Kommunikatoren. Mit dieser Grundthese haben Forschende der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) in einer nun veröffentlichten Studie im renommierten internationalen Journal of Management Studies die Krisenkommunikation des Robert Koch-Instituts (RKI) während der Corona-Pandemie untersucht und ein Prozessmodell der Krisenmodulation erstellt.
„Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Die Klimakrise, der Krieg in der Ukraine und die sogenannte Migrationskrise sind nur drei Beispiele auf internationaler Ebene“, sagt Dr. Lorenzo Skade, einer der Autoren. Hinzu kämen langanhaltende Krisen auf nationaler Ebene: Wohnungskrise, Wirtschaftskrise, Energiekrise. Doch Krisen werden sehr unterschiedlich behandelt. „Bei der Klimakrise sind wir uns zwar sehr einig, dass die Folgen eines Nichthandelns dramatisch sein werden. Trotzdem nehmen wir sie derzeit als weit weniger dringlich wahr als die drohende Rezession der Wirtschaft“, so Skade. „Das lässt sich nicht ausschließlich mit der Veränderung der Faktenlage erklären. Krisen brauchen Taktgeber, die sie modellieren, um die wahrgenommene Dringlichkeit in der Bevölkerung zu erhöhen.“
Der wichtigste Taktgeber der Corona-Krise war das Robert Koch-Institut (RKI). Um zu verstehen, wie das Institut über zwei Jahre diese Krise modelliert hat, hat das Viadrina-Team um Dr. Lorenzo Skade 45 Stunden Videomaterial von den Pressekonferenzen des RKI, 371 seiner Situationsberichte sowie 645 externe Dokumente (hauptsächlich Medienberichterstattung) aus dem ersten Krisenjahr analysiert.
Dabei hat sich gezeigt, dass das RKI mit seiner Kommunikation die Dringlichkeit der Krise sehr bewusst geformt hat. „Das RKI hat die Krise aktiv moduliert. Ein Beispiel: Wenn er zu dem Schluss kam, dass es die Situation erfordert, hat RKI-Präsident Lothar Wieler versucht, die Krise zu beschleunigen. Er stand dann täglich vor der Presse, hat sehr drastische Worte gewählt”, so Skade weiter. „Damit sich dieser Effekt aber nicht abnutzt, hat er in den richtigen Momenten auch Entwarnung gegeben und dann wochenlang gar nicht kommuniziert.“
Insgesamt haben die Forschenden drei Phasen der Krisenkommunikation identifiziert:
- In der „Frühphase“ hat das RKI die mögliche Bedrohung zwar gesehen, aber noch keine Dringlichkeit vermittelt. Stattdessen wurde in Pressekonferenzen dazu aufgerufen, Ruhe zu bewahren.
- In der „Eskalationsphase“ kommunizierte das RKI zunehmend den Ernst der Lage. Hinweise wurden in konkrete Kennwerte (zum Beispiel der „R-Wert“ und tägliche Fallzahlen) und zu Maßstäben übersetzt, um das Ausmaß der Krise verständlich zu machen. Das RKI betonte die Notwendigkeit sofortigen Handelns („Flatten the Curve“) und strenger Maßnahmen.
- In der „Pausenphase“ verringerte das RKI die Dringlichkeit. Die Situation schien unter Kontrolle, zeitliche Hinweise wurden so übersetzt, dass sie Stabilität und Kontrolle signalisierten. Die Häufigkeit von Pressekonferenzen wurde reduziert, die Öffentlichkeit dennoch dazu aufgefordert, die Kooperation aufrechtzuerhalten.
Darüber hinaus identifizierte das Team um Skade drei Formen von Dringlichkeit, die vom RKI verwendet wurden: Sogenannte „Windows of Opportunity“ wurden genutzt, um schnelle Reaktionen der Öffentlichkeit und der Regierung anzustoßen, wenn sofortiges Handeln als notwendig erachtet wurde. „Inzeptive Dringlichkeit“ wurde wiederum eingesetzt, um die Anstrengungen auch dann aufrechtzuerhalten, wenn unmittelbare Bedrohungen eingedämmt schienen. Und „Abgelaufene Dringlichkeit“ wurde verwendet, um auf verpasste Gelegenheiten zum Handeln hinzuweisen. Sie diente als Warnung und erinnerte die Bevölkerung daran, wie wichtig rechtzeitige Reaktionen bei Bedarf sind.
Quelle: Lorenzo Skade, Elisa Lehrer, Yanis Hamdali, Jochen Koch (2024). The Temporality of Crisis and the Crisis of Temporality: On the Construction and Modulation of Urgency During Prolonged Crises. Journal of Management Studies.
Zur Studie
Die frei einsehbare Studie finden Sie hier:
https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/joms.13124